Tyr - Gott der Gerechtigkeit


Außer Freyr, der unter dem altgermanischen Namen Ingwaz (nordisch Yngvi-Freyr) erscheint, und Odin, der nur allgemein als Ansuz (Asengott) genannt wird, ist Tyr der einzige Gott, nach dem eine Rune benannt ist. Die 17. Rune Teiwaz, der altgermanische Name Tyrs, steht sogar am Anfang des dritten Runengeschlechts (Ætt), das daher "Ætt von Teiwaz" heißt. Schon allein daraus läßt sich ersehen, daß Tyr, obwohl es in der Edda nur wenige Mythen über ihn gibt, ein überaus bedeutender Gott ist.

Sein Name (nordisch Týr, altgerm. außer Teiwaz auch Tiu oder Ziu) ist eines der germanischen Wörter für "Gott" im Sinne persönlicher Gottheiten (das Wort "Gott" selbst, goþ, ist ursprünglich sächlich Mehrzahl und bezeichnet das Göttliche an sich oder die Gesamtheit der Götter, nord. goð). Diesen Sinn hatte auch schon die indogermanische Wortwurzel *diw, von der u.a. griechisch theos und lateinisch deus und divus abgeleitet sind. Götter, deren Namen von diesem Wort abgeleitet sind, sind oft die höchsten Götter: Zeus (von *diw-eus) in Griechenland, Iupiter (Diu-piter) in Rom oder Dyaus im vedischen Indien. Alle diese Götter werden auch "Vater" genannt und sind Götter des Himmels und der himmlischen Naturkräfte, gehören also zum indogermanischen Ur-Götterpaar von Erdmutter und Himmelsvater. Es ist daher nicht verwunderlich, daß auch bei einigen Germanenstämmen Tyr der höchste Gott war. Zwar sagt schon Tacitus über die Germanen ganz generell, daß sie "Mercurius" (Wodan/Odin) am meisten verehrten, doch noch im Frühmittelalter herrschte z.B. bei den Schwaben die Tyr-Verehrung vor oder war zumindest so stark ausgeprägt, daß dieser Stamm in einer lateinischen Glosse als "Ciuvari", Ziu-Verehrer, bezeichnet werden konnte. Auch die Sachsen gelten als besondere Freunde Tyrs, den manche Forscher mit ihrem Stammesgott Saxnot ("Sachsengenosse") gleichsetzen. Saxnot könnte auch ein Beiname Wodans sein, aber er wird auch neben Wodan und Thunaer (Donar/Thor) genannt. Ebenso verehrten die Friesen einen Stammesgott mit Namen Fosite, der mit Tyr identifiziert wird, denn dieser Name (nord. Forseti) bedeutet "Vorsitzender".

Tyr ist nämlich der "Mars Thingsus" lateinischer Weihesteine, mit denen ihn Germanen auf römischem Gebiet ehrten: der Gott des Things, das zugleich demokratische Rats- und Gerichtsversammlung ist. Tyr ist der Gott des Gerichts und der Beratungen, der Eide und Verträge, der Gerechtigkeit und der rechtmäßigen Ordnung. Diese Ordnung wird im Heidentum nicht als starr aufgefaßt wie in den autoritären Religionen, wo ein für allemal festgelegte göttliche Gesetze gelten, sondern entwickelt sich dynamisch zwischen den Rechtspartnern oder den Konfliktparteien. Tyr ist daher nicht nur der Gott, der Streitfälle schlichtet. Er sorgt auch dafür, daß Konflikte nach festen Regeln, die alle akzeptieren, ausgetragen werden können. Nur in diesem Sinn ist er auch ein Gott des Krieges ("Mars"), wenn ein Konflikt nicht anders geklärt werden kann – also kein wirklich "kriegslüsterner" Gott wie Mars/Ares, der deshalb bei den anderen Göttern unbeliebt ist. Er akzeptiert Kampf nur als Rechtsstreit und begünstigt alle Versuche, ihn zu begrenzen, z.B. durch den Brauch bei Germanen und Kelten, Schlachten durch Zweikämpfe der Heerführer zu ersetzen. In solchen Fällen, wie auch bei Streitfällen vor Gericht, kann man Tyr um Sieg anrufen.

Die Edda erzählt von Tyr, daß er ein Sohn Odins und einer Riesin ist, deren Name aber nicht genannt wird. Tyrs Mutter heiratete später den Riesen Hymir, von dem Tyr gemeinsam mit Thor den magischen Braukessel holt, den Hymir besitzt. Dabei kommt es zu Thors Kampf mit der Mitgardschlange, einem der Ungeheuer, die Loki mit der Thursin Angrboda gezeugt hat. Ein anderes dieser Ungeheuer, den Wolf Fenrir, bezwingt Tyr selbst, büßt dabei aber seinen rechten Arm ein: Die Götter wollen dem Wolf eine magische Fessel anlegen, doch er läßt das nur mit sich tun, wenn sie ihm schwören, ihn wieder zu befreien, und einer von ihnen seine Hand in seinen Rachen legt. Tyr, der Gott der Eide, ist dazu bereit, aber er weiß, daß er einen Meineid schwören muß - um die Welt vor dem Ungeheuer zu schützen, muß er gegen sein innerstes Wesen handeln und einen Teil von sich selbst opfern.